Vorwort zu »Mehr Licht« pdficon

Was wäre geschehen, wenn sich Newton und Goethe ans Prisma gestellt hätten, um zusammen zu experimentieren? Diese Frage hält mich seit fünfzehn Jahren auf Trab. Sie hat mein Leben verändert und zu diesem Buch geführt. Selbstverständlich habe ich keine definitive Antwort auf die Frage gefunden, doch die tentative Vermutung, zu der ich gelangt bin, ist beunruhigend genug: Möglicherweise sähe heute unsere Physik komplett anders aus.

Ich vermute und befürchte das, und mit beidem möchte ich Sie in diesem Buch konfrontieren. Ich werde einerseits zeigen, was für die Vermutung spricht und warum wir gleichwohl keine Chance haben, sie zu beweisen; sie wird auch am Ende meines Buchs in der Schwebe bleiben. Andererseits werde ich durchdenken, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Vermutung zuträfe. Verächter der Naturwissenschaft würden frohlocken, gewiss – aber in deren Gesellschaft möchte ich mich nicht begeben. Diese Leute machen es sich zu einfach. Ich werde dagegen vorführen, wie viel Respekt vor den Errungenschaften experimenteller Naturwissenschaft man aufbieten muss, um (im Verein mit Goethe) überhaupt seriöse Zweifel an ihrer Objektivität wecken zu können.

Ob meine Vermutung zutrifft, hängt von einigen unwesentlichen Faktoren ab, die man besser ausklammern sollte. So sind Goethe und Newton gleichermaßen dafür berüchtigt, dass sie keinen Widerspruch vertragen konnten – vor allem nicht in optischen Angelegenheiten. Schlimmer noch, beide haben sich im vergangenen Jahrhundert die unschmeichelhafte Diagnose eingefangen, verrückt gewesen zu sein; sie wurden auf die Couch gelegt, psychiatrisch durchleuchtet und posthum per Indizienbeweis für unzurechnungsfähig erklärt – ausgerechnet wegen ihrer auffälligen Empfindlichkeiten in optischen Streitfragen. Wären diese Diagnosen richtig, so hätte es wohl geknallt, wenn die beiden in der Dunkelkammer aufeinandergestoßen wären; wissenschaftlich wäre nichts weiter passiert. So gewendet ist das Gedankenspiel unergiebig. Interessant für Scotland Yard, uninteressant für Physik und deren Philosophie.

Daher möchte ich noch einmal neu ansetzen. Ich klammere etwaige Verrücktheiten oder Charakterschwächen der beiden Personen aus und frage unter psychologisch idealisierten Annahmen: Was wäre geschehen, wenn Goethe und Newton gemeinsam am Prisma gestanden hätten und wenn sie beide über ihren Schatten gesprungen wären? Was also, wenn sie einander ihre besten Experimente gezeigt und dann darüber rational diskutiert hätten? Auch darauf habe ich keine definitive Antwort, doch gewinnt meine beunruhigende Vermutung nun an Gewicht – vielleicht hätte Newton eine andere Optik geschrieben, und Goethes Farbenlehre wäre ungeschrieben geblieben. Und vielleicht wäre dann auch unsere heutige Physik ganz anders.

Ich finde dies Gedankenspiel verstörend und reizvoll; es ist mehr als bloße Spielerei. Hinter dem Gedankenspiel steckt eine These, die ich in meinem Buch begründen werde. Sie lautet: Goethe und Newton waren einander in optischen Angelegenheiten ebenbürtig. Sie hätten sich gegenseitig ernst nehmen müssen, jeder hätte vom andern lernen können, und das Ergebnis ihres rationalen Gedankenaustauschs zur Optik wäre nicht auszudenken.

Da die naturwissenschaftlich informierte Welt Newton als den rechtmäßigen Gewinner im Streit über das Licht und die Farben ansieht, steckt in meiner These eine Provokation: Nicht nur hätte Goethe von Newton viel lernen können (geschenkt, geschenkt), sondern auch Newton von Goethe – und zwar, wie gesagt, in seinem ureigensten Metier, in der Optik. Goethe hat dort eine faszinierende Symmetrie entdeckt, die Newtons Argusaugen entgangen war und die das gesamte Reich der newtonischen Experimente verdoppelt. Hier in modernen Worten eine erste grobe Fassung dessen, worauf Goethes Entdeckung hinausläuft: Man nehme die Farbfotografie eines beliebigen Experiments von Newton; dann kann man auch das Negativ dieses Fotos als Bild eines Experiments deuten – und zwar eines Experiments, das wirklich so ausgeht, wie das Negativ zeigt. Jedes Experiment Newtons hat also ein komplementäres Gegenstück (das bei Newton und an unseren Schulen unter den Tisch fällt). Das Gegenstück entsteht aus dem ursprünglichen Experiment durch Umkehrung der Beleuchtung – durch Vertauschung der Rollen von Licht und Dunkelheit. Daher rede ich oft von einer Symmetrie zwischen Helligkeit und Finsternis. Diese Symmetrie ist bis heute nicht recht gewürdigt worden; vermutlich hat man sie noch nicht einmal richtig verstanden. Beides möchte ich mit meinem Buch ändern. Und da gutes Verständnis vor jeder Würdigung kommt, werde ich alles tun, um Ihnen Goethes Entdeckung Schritt für Schritt zu erklären. Irgendwelche besonderen Vorkenntnisse werden Sie für meinen Gedankengang nicht brauchen.