Vorwort zu »Ultraviolett« pdficon

Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erhielt die Erforschung des Lichts und des Sonnenspektrums mit atemberaubendem Tempo frische Impulse. Kaum hatte der deutsch-britische Astronom Wilhelm Herschel im Jahr 1800 jenseits vom roten Ende des Sonnenspektrums eine unsichtbare Strahlung entdeckt, unser heutiges Infrarot, da dachte sich ein junger Naturwissenschaftler in Jena, er habe aus Symmetriegründen auf der anderen Seite außerhalb des Spektrums ebenfalls eine unsichtbare Strahlung zu erwarten. Sofort ersann er ein entsprechendes Experiment und wies am 21. Februar 1801 jenseits der sichtbaren blauvioletten Spektralbereiche die Wirkungen dessen nach, was wir heute als UV-Licht bezeichnen: eine bahnbrechende Entdeckung.
Der junge Mann trug den Namen Johann Wilhelm Ritter, war gelernter Apotheker, litt ständig unter Geldsorgen und hatte sich ab 1796 an der Universität Jena weitgehend eigenständig in damals florierende Gebiete der Chemie und Physik eingearbeitet. Er hatte mit dem Naturforscher Alexander Humboldt kooperiert, war in den Kreis der Frühromantiker um Caroline Schlegel, Dorothea Veit und deren Partner, die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel aufgenommen worden, hatte sich mit dem Dichter Friedrich Hardenberg (Novalis) befreundet, mit dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling diskutiert, ja gestritten – und war irgendwann vor 1800 (keiner weiß, wann genau) auch auf Johann Wolfgang Goethe gestoßen.
Der war einerseits für die Organisation der Jenenser Universität zuständig, andererseits verstand er sich als Naturwissenschaftler und arbeitete an einer großangelegten Untersuchung zu Farben, Licht und Finsternis – mit dem halsbrecherischen Ziel, Isaac Newtons Theorie der Spektralfarben zu untergraben. Im Zuge dieses Projekts machte er kein Geheimnis aus seiner Überzeugung, dass die gesamte Natur von Polaritäten beherrscht werde, also von symmetrisch entgegengesetzten Wirkfaktoren wie z. B. magnetischem Nord- und Südpol oder elektrischem Plus- und Minuspol. Mit dieser Sichtweise stand er damals nicht alleine; sie war hochumstritten, doch einige namhafte Physiker und Chemiker der Goethezeit (auf die ich im Lauf meiner Darstellung zurückkommen werde) strebten ebenfalls nach einer vereinheitlichten Naturlehre und wollten der Polaritätsidee darin eine grundlegende Rolle zuschreiben.
Einer dieser Forscher ist Ritter gewesen; er hat sich von Goethe in die umfassende Suche nach Polarität hineinziehen lassen und stieß genau infolgedessen auf die Wirkungen des Ultravioletten – so jedenfalls lautet die These des vorliegenden Buchs: Unter dem Einfluss Goethes begann sich Ritter für Lichtspektren und Farben zu interessieren, unter Goethes Einfluss gewann die Polaritätsidee immer größere Bedeutung für seine wissenschaftliche Arbeit, unter Goethes Einfluss entdeckte er das Ultraviolette, und unter Goethes Einfluss verwandelte er sich schließlich fatalerweise in einen Gegner der Optik Newtons.
Dabei hat er sich nicht von Goethe über den Tisch ziehen lassen. Im Gegenteil, er begann wie jeder ernsthafte Naturwissenschaftler seiner Zeit mit der unhinterfragten Voraussetzung, dass Newtons Theorie vom Licht und den Farben stimmen müsse. Zwar hatte er im Schutzraum seines persönlichen Arbeitsjournals bereits mit den optischen Polaritätsideen Goethes hantiert, und das just in dem Augenblick, in dem er den Plan für das großartige Experiment schmiedete. Doch nachdem ihm kurz darauf seine bahnbrechende Entdeckung gelungen war, präsentierte er sie in einer sofort herausgejagten Eilmeldung noch im Rahmen der newtonischen Theorie, also ungefähr so, wie wir es heutzutage für richtig halten: als Entdeckung unsichtbarer Lichtstrahlen, die vom Prisma stärker gebrochen werden als die sichtbaren blau-violetten Bestandteile im weißen Sonnenlicht.
Erst nachdem er sich mit Goethe getroffen, ihm das Experiment gezeigt, mit ihm darüber diskutiert und einen langen Brief von ihm empfangen hatte, ließ er sich Schritt für Schritt auf dessen Sichtweise ein. Er unternahm zusätzliche Experimente, die ihm Goethe brieflich aufgetragen hatte, führte sie eigenständig weiter und kam nach Monaten intensiver Forschung zu dem in unseren Augen haarsträubenden Ergebnis, dass Newton unrecht und Goethe recht hat.
Wie eine genaue Lektüre der überlieferten Notizen, Tagebücher, Briefe und Publikationen Ritters zeigt, hat er der Polaritätsidee nach und nach in seiner Forschung immer stärkeres Gewicht gegeben. Zuerst nutzte er sie im engen Bereich der Elektrizität; danach diente sie ihm als probates Mittel zur Formulierung einer überraschenden optischen Hypothese über das Ultraviolette, für deren sensationelle Bestätigung ihm ein unabweislicher Platz in den Geschichtsbüchern zukommt. Dann leckte er Blut und experimentierte unter Goethes polaristischen Vorzeichen solange weiter, bis er sich in der Optik voll und ganz auf dessen Seite schlug. Noch später organisierte er seine gesamte Forschung (auch außerhalb der Optik) an der Polaritätsidee: an einer Idee, die aus unserer heutigen Sicht so obsolet ist wie viele andere Ideen vom Friedhof der Wissenschaftsgeschichte, die aber trotz ihrer späteren Gegenstandslosig-keit einen Anlass für die immer noch gültige Entdeckung des Ultravioletten geboten hat. Es bleibt dabei, Ritter hat diese unsichtbare Strahlung entdeckt, und Goethe hatte daran keinen kleinen Anteil – obgleich wir den entdeckten Effekt heute auf völlig andere physikalische Ursachen zurückführen, als es sich die beiden seinerzeit zurechtgelegt haben.
Zwar trennten sich die Wege meiner beiden Protagonisten schon ein halbes Jahr nach Ritters bahnbrechender Entdeckung, möglicherweise wegen einer wissenschaftlichen Kontroverse. Doch auch bei vergrößertem Abstand zogen beide weiter an einem Strang – bis Ritter im Jahr 1810 eines viel zu frühen, tragischen Todes gestorben ist.
Soviel im Schnelldurchgang zu der Geschichte, die ich in diesem Buch darstellen möchte. Es ist die Geschichte der wissenschaftlichen Kooperation zweier sehr verschiedener Männer, eine Art Doppelbiographie also. Ihre Geschichte wird hier zum ersten Mal ausführlich entfaltet. Aus ihr lässt sich eine Menge über Goethes wissenschaftlichen Neuigkeitshunger, seine wissenschaftliche Arbeitsweise und sein wissenschaftliches Temperament lernen; jahrzehntelang folgte er glasklaren Zielen mit einer Methode, die nicht ohne Meriten war und aus damaliger Sicht alles andere als irrational. Und ist es die Geschichte eines genialen jungen Physikers, seines Muts zum Risiko, seiner traumwandlerischen Intution, seines Scheiterns auch; anders als der mittlerweile in sich ruhende Goethe war er ein Kind seiner romantischen Zeit, durchlief Höhenflüge, überstand Abstürze – himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt.
Aus zwei Gründen ist es eine überraschende Geschichte. Erstens sind sich fast alle Kommentatoren einig, dass Goethes Farbenforschung jeden anständigen Physiker seiner Zeit verschrecken musste. Dieses Klischee passt nicht zu seiner konstruktiven Zusammenarbeit mit einem der damals talentiertesten Experimentatoren, der noch die verzwicktesten Versuche erfolgreich durchzuführen wusste. Mehr noch, wenn sich Ritter und Goethe in ihren Forschungen gegenseitig anregten, und zwar auf Augenhöhe, dann sollten wir Goethes naturwissenschaftliche Arbeit in der Optik vielleicht nicht als haltlosen Dilettantismus oder beklagenswerte Verrücktheit abtun. Stattdessen könnte es sich lohnen, sich in die damals durchaus üblichen Methoden und Modelle hineinzudenken, um ihre zeitbedingte Folgerichtigkeit nachzuvollziehen. Man lernt bei dieser Übung auch etwas über die Vorläufigkeit jedweder naturwissenschaftlichen Modellbildung; selbst die wesentlich feineren und stär-keren Modelle unserer Zeit könnten eines schönen Tages obsolet werden.
Und zweitens wird dem Farbenforscher Goethe immer vorgeworfen, er wäre starrköpfig beim oberflächlichen Schein stehengeblieben, hätte also keine Ahnung davon gehabt, wie man in der neueren Physik mithilfe technischer Mittel unter die wahrnehmbare Oberfläche vorstoßen könne und müsse. Zu diesem Vorwurf will es nicht recht passen, dass sich Ritter ausgerechnet durch Goethe dazu anregen ließ, das Newtonspektrum auch jenseits der sichtbaren Endpole zu untersuchen, und dass Goethe diese photochemischen Untersuchungen willkommen geheißen hat. Wie sich herausstellen wird, war er von ihnen deshalb angetan, weil er – irrigerweise, aber verständ-licherweise – meinte, dass sie seine polare Sicht der Spektralfarben bestätigten.
Wenn diese Thesen richtig sind, dann müssen wir unser Goethebild revidieren und seinen Beitrag zur Physik seiner Zeit historisch ernster nehmen als gedacht. Dafür spricht ein Detail, das bislang nicht recht gewürdigt worden ist und das erst durch meine Darstellung in seiner vollen Bedeutung eingeordnet werden kann: Bereits zehn Jahre vor Ritters Entdeckung wäre Goethe beinahe selber auf das Ultraviolette gestoßen; er hatte alle Bestandteile des Nachweises beisammen und hat die Sache nur um Haaresbreite verfehlt. Dass die Entdeckung ausgerechnet in seinem wissenschaftlichen Umfeld vollzogen wurde, ist vielleicht weniger überraschend, als man denken könnte. Der Wahnsinn hatte Methode, soll heißen: Ritters und Goethes methodische Suche nach polaren Symmetrien lenkte Ritters Aufmerksamkeit auf einen ganz bestimmten Bereich der spektralen Phänomene, in dem damals wirklich etwas zu holen war. Auch mit anderen Suchstrategien hätte man dort seiner-zeit fündig werden können; aber es ist allemal instruktiv mitzuverfolgen, wie es de facto zur Entdeckung des Ultravioletten gekommen ist. Goethe war besonders nah am Geschehen.