Vorwort zu »Zu schön um falsch zu sein«pdficon

In diesem Buch möchte ich Sie mit einem Erlebnis beglücken und mit einem Rätsel konfrontieren. Für das Erlebnis lade ich Sie ein, einige naturwissenschaftliche Errungenschaften zu betrachten – aber nicht in erster Linie mit dem Realitätssinn, sondern mit dem Schönheitssinn. Ich verspreche, dass Sie dabei etwas erleben werden, was Ihnen aus dem Umgang mit Kunst wohlvertraut ist: Einige großartige Experimente aus der Geschichte der Physik erfreuen unseren Sinn für Ästhetik nicht anders als einige großartige Kunstwerke aus Musik-, Film-, Literatur- und Kunstgeschichte.

Selbstverständlich behaupte ich nicht, dass die Schönheit eines Experiments und beispielsweise eines Musikstücks exakt demselben Muster folgt. Auch in den verschiedenen Kunstgattungen und -epochen verläuft Schönheit nicht auf exakt denselben Bahnen; selbst innerhalb des Œuvres eines Künstlers tut sie es nicht. Und doch arbeitet unser Schönheitssinn in allen diesen Bereichen nach vergleichbaren Richtlinien, auch in der Naturwissenschaft. Das Wort »Schönheit« ist überall gut am Platze; man kann es sogar mit Fug und Recht auf naturwissenschaftliche Theorien anwenden.

Damit komme ich zu dem Rätsel, das ich versprochen habe. Wie ein Blick in die Geschichte der Physik ohne jeden Zweifel zeigt, spielt der Sinn für Ästhetik eine herausragende Rolle für den wissenschaftlichen Fortschritt. Gerade die Genies der neuzeitlichen und modernen Physik setzen ihre Karten immer wieder auf das Schöne. Ästhetischen Experimenten schenken sie größere Aufmerksamkeit als deren hässlichen Gebrüdern, darum feilen sie jahrelang an der Schönheit ihrer Versuchsaufbauten – und verschönern ihre Versuchsergebnisse. Beispielsweise Newton, der wohl wichtigste Physiker der Neuzeit: Mit einem herrlichen Experiment war es ihm gelungen, aus dem weißen Sonnenlicht die regenbogenbunten Bestandteile herauszuholen, die laut seiner Theorie darin enthalten sind; wenn die Theorie stimmt (so Newton), dann muss sich das regenbogenbunte Licht des Sonnenspektrums wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen. Was vorwärts funktioniert, muss auch rückwärts gehen.

Schöne Idee! Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht gelingen; Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Schmutzeffekte übersehen, die das gewonnene »Weiß« störten. Statt sich damit abzufinden und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen (wie es nur zu oft geschieht), spuckte er in die Hände und versuchte es immer wieder. Innerhalb von über dreißig Jahren hat er ein halbes Dutzend Weißsynthesen veröffentlicht, eine schöner als die andere – aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente vertieft, wird schnell vom ruhelosen Perfektionismus dieses großen Experimentierkünstlers gefesselt. Wie Sie sehen werden, geht die Geschichte gut aus; noch zu Newtons Lebzeiten sollte sein Schüler Desaguliers das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen, und man hört förmlich Newtons Jubel über diesen Triumph.

Wie bei der experimentellen Arbeit, so auch bei der theoretischen: Die Physiker investieren ungeheure Mühen in die Formulierung schöner Theorien und geben sich nicht mit ihren hässlichen Schwestern zufrieden. Ja, manch eine Theorie (an die wir bis heute glauben) hat sich anfangs überhaupt nur aufgrund ihrer Schönheit durchgesetzt – und zwar selbst dann, wenn die von ihr verdrängte Theorie seinerzeit besser zu den Daten passte.

Offenbar halten Physiker schöne Errungenschaften ihrer wissenschaftlichen Arbeit für glaubwürdiger als unschöne. Sie verfahren nach dem Motto: Zu schön, um falsch zu sein. Und sie sind damit verblüffend erfolgreich, nicht anders als ihre Kolleginnen und Kollegen aus Chemie oder Biologie.

Wieso zum Teufel gilt das Motto in der Naturwissenschaft, insbesondere in der Physik? So lautet das Rätsel, das ich aufwerfen möchte. Weshalb können wir mit einer schönheitsbeflissenen Methode so viele wissenschaftliche Erfolge feiern? Warum dürfen wir unseren, menschlichen, Sinn für Ästhetik ins Spiel bringen, wenn wir herausfinden wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Als einst unser Universum mit einem großen Knall entstanden ist und sich seine Strukturen herausbildeten – warum entstanden dabei ausgerechnet diejenigen Strukturen, die Milliarden Jahre später von unbedeutenden Wesen in einer winzigen Ecke des Universums als hochästhetisch empfunden werden sollten? Wie man es auch dreht und wendet: Es grenzt an ein Wunder, dass Physiker ihren Schönheitssinn erfolgreich einsetzen können, wenn sie auf Wahrheitssuche sind.

Dass ich die richtige Antwort auf das Wunder wüsste, kann ich nicht behaupten; keiner weiß sie, soweit ich sehe. Es ist sogar umstritten, ob hier ein Wunder vorliegt. Selbstverständlich werde ich Ihnen die besten Antworten vorstellen, die mir begegnet oder eingefallen sind. Aber ich werde den Streit darüber nicht bis an den Punkt führen, wo sich das Gewicht der Argumente zwingend in eine Richtung neigt. Ist das schlimm? Ich meine nicht. Zuweilen tun wir gut daran, ein Rätsel in seiner ganzen Tiefe auszumessen – statt übereilt danach zu trachten, es zum Verschwinden zu bringen.

Kein Zweifel, es handelt sich um ein tiefes Rätsel. Die Naturwissenschaft ist eines der wichtigsten und mächtigsten Unterfangen, das uns Menschen offensteht, unser gesamtes Leben durchformt und hoffentlich verbessert. Und unser Schönheitssinn ist eine der wichtigsten und mächtigsten Quellen der Freude, ja des guten, gelingenden Lebens. Wenn nun Naturwissenschaft und Schönheitssinn auf innigere Weise zusammenhängen, als man kühlerweise denken könnte, so ist diese Tatsache von eminenter Bedeutung. Und das gilt auch dann, wenn wir uns noch keinen Reim darauf machen können. Um es zu wiederholen, ich kann das Rätsel nur aufwerfen, nicht lösen.

Da ich ohnehin gerade dabei bin, Schwächen einzugestehen, kann ich auf diesem Weg getrost noch ein Stückchen weitergehen. Und zwar habe ich das vorliegende Buch aus Versehen geschrieben. Eigentlich war ich mit einem anderen Buchprojekt zur Geschichte und Wissenschaftstheorie der Optik unterwegs, da fiel mir auf, wie ästhetisch es in dieser physikalischen Disziplin zugeht – und wieviel Freude mir das bereitet. Also wollte ich ein kurzes Kapitel zu diesem Thema einschieben. Ich besorgte mir einen ständig wachsenden Berg an Literatur, war von vielem fasziniert, von allem verwirrt und mit nichts zufrieden; so ist mir das Thema explodiert, sieben fette Jahre lang.

Es mag viele verschiedene Zugänge zur Schönheit in der Physik geben; man könnte z. B. systematisch argumentierend vorgehen oder historisch sortierend. Weder das eine noch das andere finden Sie im Herzstück dieses Buchs, denn ich gehe in erster Linie vor wie ein Kundschafter in unvertrautem Gelände – explorativ, verbindend und sammelnd.

Mein Hauptziel besteht darin, anhand konkreter Fälle aus der Physikgeschichte einige derjenigen vielfältigen Gesichtspunkte aufzuspüren und vorzuführen, die für die ästhetische Beurteilung physikalischer Experimente, Argumente oder Theorien einschlägig sind, z. B. Symmetrie oder Überraschungskraft. Diese Geichtspunkte lassen sich in ihrer ästhetischen Wirkung nur dann nachvollziehen, wenn man ihre Gegenstände (die fraglichen physikalischen Errungenschaften) klar vor Augen hat; daher lege ich großes Gewicht auf die Erklärung der betrachteten Experimente und Theorien.

Aber das alleine genügt nicht, wie ich meine. Bevor wir in der Physik von ästhetischen Errungenschaften sprechen können, müssen wir uns vergewissern, dass sie sich an Errungenschaften in den Künsten anschließen lassen; die einschlägigen Gesichtspunkte müssen in beiden Bereichen zueinander passen, müssen irgendwie miteinander verwandt sein.

Systematisch argumentierend lässt sich diese Verbindung nicht erzwingen. Warum nicht? Unter anderem deshalb nicht, weil keine allgemeine Definition des Schönen oder des Ästhetischen in Sicht ist, die für alle Bereiche gut funktioniert und sich zum Subsumieren eignet. Das Feld der Phänomene ist bei weitem zu vielfältig für so eine Herangehensweise.

Stattdessen könnte man versuchen, eine historische Ordnung in die Phänomene zu bringen, also transdisziplinär der Entwicklung des Schönheitssinns durch den Lauf der Jahrhunderte nachzuspüren. Ich habe mich gegen diese Herangehensweise entschieden, weil sie dem Gedankengang ein zu starres zeitliches Korsett aufgezwungen hätte. In der Tat: Wenn wir schon Grenzen sprengen und munter von einer (z. B. naturwissenschaftlichen) Disziplin in die andere (z. B. künstlerische) Disziplin springen – warum sollen wir nicht auch mutig von einer Epoche in die andere springen, etwa von der frühen Neuzeit in die Moderne – und von dort zurück ins Barock? Warum nicht Transdisziplinarität mit Transtemporalität verbinden?

Oder wäre das etwa zu undiszipliniert? Wieso denn! Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass man nur dann über einen kulturellen Gegenstand sprechen darf, wenn man seine Vorgeschichte einbezieht. Meiner Ansicht nach bietet der historische Denkstil lediglich einen der vielen zulässigen Zugänge zu einem Gegenstand; je nach Lage der Dinge kann er die Betrachtung fördern oder hemmen – bei meinem Thema wäre er hemmend, weil er bestimmte erhellende Vergleiche von vornherein ausschließt. Demgegenüber werde ich ohne historische Skrupel bei einem newtonischen Experiment u. a. auf Charakteristika aufmerksam machen, die sich in einem bestimmten Gemälde Mondrians wiederfinden; bei einem anderen newtonischen Experiment sind es Charakteristika eines Bach-Kanons, die sich wiederum in der modernen Teilchenphysik ausmachen lassen und zusätzlich bestimmten cineastischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ähneln; und so weiter.

Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dass sich das zuerst erwähnte Experiment Newtons ästhetisch auf das fragliche Gemälde Mondrians ausgewirkt hätte oder dass Bach beim Komponieren seines Kanons von dem anderen Experiment beeinflusst worden wäre. Gerade weil ich mein Material nicht historisch sortiere, komme ich um leidige, aber beliebte Fragen wie die nach Einfluss, Vorreiterei oder Epigonentum herum; sie sind für meine Zwecke uninteressant.

Es gibt eine verwandte Frage, die bei Theoretikern der Ästhetik ebenfalls beliebt ist und zu der ich in diesem Buch genauso wenig sagen werde: Natur oder Kultur? Es mag sein, dass Einsatz und Wertschätzung einiger ästhetischer Charakteristika, die ich behandeln werde, kulturell gewachsen sind; und es mag sein, dass dies bei einigen anderen Charakteristika nicht gilt, dass deren Wirksamkeit also eher zu unserer biologischen oder anthropologischen Grundausstattung gehört; und es mag eine Grauzone zwischen den beiden Polen geben. Angesichts dieser Skala könnte man in uferlose Grübeleien versinken. Ich werde dem aus einem einfachen Grunde widerstehen: Was aus meinen zeit- und fächerübergreifenden Vergleichen für die Frage nach Natur oder Kultur der Ästhetik gelernt werden könnte, weiß ich noch nicht – vielleicht wäre dies ein ergiebiges Thema für weitere Forschungen.

Wie auch immer; dass die Vergleiche kreuz und quer durch Disziplinen wie Epochen erlaubt sind, weil sie für sich allein funktionieren, ist die Pointe des vorliegenden Buchs. Sie ergibt sich weder aus systematischer Argumentation noch aus historischer Narration. Wenn sie Hand und Fuß hat, so tritt sie aus meinen Vergleichen allmählich hervor – vor Augen und Ohren derjenigen Leserinnen und Leser, die den Beispielen nicht ohne kritische Sympathie zu folgen geneigt sind.

Selbstverständlich rechne ich nicht damit, dass Sie all meinen ästhetischen Betrachtungen beipflichten; auf hundertprozentige Übereinstimmung kommt es zum Glück nicht an. Nein, mir ist es darum zu tun, Ihnen Betrachtungsweisen und Gesichtspunkte anzubieten, in deren Lichte ich selber und einige meiner Geprächspartner begeistert auf dies Kunstwerk oder das Experiment oder jene Theorie zu reagieren pflegen. Mit dem Angebot lade ich Sie ein zu prüfen, ob es Ihnen ähnlich geht. Dass diese Einladung ein gewisses subjektives Element mit sich bringt, lässt sich nicht vermeiden; so wie jeder andere folge auch ich einem persönlich geprägten Weg durch die Schönheiten dieser Welt.

Mir ist beispielsweise die ästhetische Kategorie des Erhabenen weitgehend fremd, daher kommt sie in meinem Buch kaum vor. Aber nicht deshalb, weil ich diese Kategorie verdächtig fände oder mich über deren Freunde erheben wollte – im Gegenteil, ich wäre froh, wenn ich mehr mit ihr anzufangen wüsste. Zu fremdeln ist ja kein Zeichen von Stärke.

Nach allen diesen Eingeständnissen lässt sich jetzt vielleicht nachvollziehen, warum ich dieses Buch in der Ich-Form schreibe: Es geht mir nicht darum, mich egozentrisch in den Vordergrund zu spielen, sondern um ein deutliches grammatisches Signal der Bescheidenheit. Ich beanspruche mit meinen Wertungen keine Allgemeingültigkeit; es handelt sich nur um Einladungen an Sie, das Vorgeschlagene auszuprobieren; dies Buch ist also eine Art offener Brief.

Noch einmal: Man kann darüber streiten, welche Beispiele sich für die Zwecke des angestrebten Vergleichs zwischen Kunst und Naturwissenschaft am besten eignen, und ich wäre nicht gut beraten, wenn ich meine Beispiele mit Klauen und Zähnen verteidigen wollte. Zweierlei ist wichtiger: Einerseits tun Beispiele not; rein abstrakt lässt sich das ganze Unterfangen nicht durchführen, ja nicht einmal beginnen. Andererseits gibt es Beispiele in Hülle und Fülle. Ich lade Sie ein, aus Ihrer eigenen Kunsterfahrung nach neuen Beispielen für das zu suchen, was ich mit den meinigen zu illustrieren versuche. Wie Sie sehen werden, lohnt sich die Übung. Unter anderem schärft und erfrischt sie die Aufmerksamkeit für Kunstwerke; und sie steigert das Verständnis dessen, was Naturwissenschaftler antreibt.

Spitzen Sie die Ohren, sperren Sie Ihre Augen auf – und machen Sie mit!